PLENUM 9. Sitzung, 20.07.2011
TOP 2a) Aktuelle Debatte
Die Zukunft der Grundschulempfehlung in Baden-Württemberg: Mit qualifizierter Beratung die Elternrechte stärken sowie den frühen und überzogenen Leistungsdruck auf Mädchen und Jungen reduzieren
Beantragt von der Fraktion der SPD
b) Antrag der Fraktion FDP / DVP und Stellungnahme des Ministeriums für Kultus und Sport
Zukünftige Ausgestaltung der Grundschulempfehlung
Drucksache 15 / 158
Herr Präsident, / Frau Präsidentin,
meine sehr geehrten Kolleginnen und Kollegen!
Nächste Woche darf ich eine Kollegin in den wohlverdienten Ruhestand verabschieden, die über 40 Jahre diesem Land treu gedient hat. Sie wird mit Wehmut gehen, denn ihr ganzes Leben lang war es für sie eine große Freude, ihren Grundschulkindern die Lehrerin zu sein.
Und noch ein Wermutstropfen trübt ihren Abschied: Über 40 Jahre lang hat sie davon geträumt, dass sich in der Schule etwas ändert. Sie freut sich für ihre Kolleginnen und Kollegen, dass sie in den Stufen 3 und 4 zukünftig nicht mehr die unselig verpflichtende Grundschulempfehlung aussprechen müssen, dass sie nicht mehr Schicksal spielen müssen, nach 3 ½ Jahren Grundschulzeit.
Ich hätte es meiner Kollegin gerne gegönnt, ohne den Druck der Eltern auf ihre Kinder und häufig genug auf sich selbst zu unterrichten.
Ich hätte es ihr gegönnt, ohne den enormen Notendruck zu unterrichten. 10 Klassenarbeiten in Deutsch, 8 Klassenarbeiten in Mathe.
Ich hätte es ihr gegönnt, die Eltern zu beraten, ohne dass in deren Hinterkopf immer mitschwingt: Hoffentlich reicht es zu 2,4, der Empfehlung fürs Gymnasium; oder wenigsten zu 3,0, der Berechtigung, die Realschule zu besuchen. Meine Kollegin hätte gerne weiterhin Eltern und Schüler beraten, ohne Druck, sondern sachlich fundiert.
Der Druck, der auf alle Beteiligten schon Ende der zweiten Klasse entsteht, ist enorm. Alljährlich sitzen mir kurz vor den Sommerferien die Elternvertreter der zweiten Klassen gegenüber, die wissen wollen, welcher der Kollegen ihre Kinder in der dritten und damit später in der vierten Klasse unterrichten wird. Es gibt also erwünschtere und weniger erwünschte Lehrer, je nachdem, von welchem sich die Eltern die bessere Vorbereitung und die gnädigeren Noten erhoffen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, sie werden sich vorstellen können, was das für einen Schulleiter bedeutet, diesen Spagat zwischen den Elternwünschen auf der einen Seite und der fairen Behandlung aller Kolleginnen und Kollegen auf der anderen Seite hinzubekommen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, lassen Sie mich an dieser Stelle auch ein paar Worte verlieren über die Auswüchse, die die verpflichtende Grundschulempfehlung produziert hat.
Ich weiß aus Gesprächen, dass Eltern versuchen, Lehrer mit Geschenken zu beeinflussen, um das Empfehlungsziel zu erreichen. Und dieses lautet nicht Hauptschule und auch nicht Werkrealschule.
Gängige Praxis unter Eltern, die mit aller Gewalt ihr Kind von der unerwünschten Hauptschule in die Realschule bugsieren wollen, ist zum Beispiel folgende: Das Kind hat die Empfehlung für die Realschule nicht erhalten, das Beratungsverfahren hat auch kein anderes Ergebnis gebracht und dann wurde es noch in eine Prüfung gejagt – die nur rund 10% bestehen – und es hat nicht zu den Glücklichen gehört.
Nun kommt es in die Hauptschule. Die Klassenlehrerin empfängt eine Truppe von vermeintlichen Verlierern. Mit großem Engagement gelingt es ihr, die Kinder zu motivieren, ihr Selbstvertrauen zu stärken und sie belohnt auch mit guten Noten.
Zum Halbjahr, spätestens dann zum Ende des Schuljahres ist das Ziel erreicht: Das Kind darf über die multilaterale Versetzungsordnung in die Realschule. Und obwohl in der Verordnung steht, dass es in die nächsthöhere Klasse wechseln muss, darf es in der Realschule die 5. Klasse wiederholen. Dieses Schuljahr wird dann gezählt wie ein Mal Sitzenbleiben.
Dass dieser Schüler oder diese Schülerin dann ebenso 7 Jahre bis zur Mittleren Reife braucht, wie ein Hauptschüler, der nach der Prüfung eine zweijährige Berufsfachschule besucht, interessiert die Eltern nicht: sie haben sich vom Stigma „Hauptschule“ befreit.
Und hier noch etwas zur Legende der guten Beratung:
Schon jetzt haben alle Eltern die Möglichkeit, sich an ihrer Schule beraten zu lassen in Sachen Grundschulempfehlung. Was die allermeisten Eltern wollen, die von sich aus den Weg in ein solches Gespräch finden, ist jedoch keine Beratung im eigentlichen Sinn sondern lediglich eine Aussage darüber „Erhält mein Kind eine Empfehlung für die Realschule oder für das Gymnasium oder nicht?“. Der Druck, den die Eltern sich auferlegen und der am Ende immer beim Kind landet, ist enorm. Dass immer mehr Kinder und Jugendliche Psychopharmaka einnehmen, hat direkt mit diesem Druck zu tun. Wir alle wissen aber, dass es sich in einem Klima von Versagensangst nicht gut lernt. Für diejenigen Kinder nämlich, die keine Empfehlung für die Schule ihrer Wahl bekommen, handelt es sich bei der derzeitigen Grundschulempfehlung um einen Wink mit dem Zaunpfahl, dass sie zu denjenigen zählen, die es nicht geschafft haben. Eine Niederlage, die diese Kinder zutiefst beschämt.
Ja, das ist die Realität in Baden-Württembergischen Grundschulen: Seit Jahrzehnten sortieren wir die Kinder mit all diesen negativen Begleiterscheinungen.
Dabei findet eine unsägliche soziale Auslese statt: Kinder aus bildungsnahen Elternhäusern erreichen 2 ½ Mal eher eine Empfehlung für die Realschule bzw. das Gymnasium als Kinder aus bildungsfernen Schichten. Der dicke Geldbeutel betuchter Eltern macht Nachhilfe und Lernerfolg möglich. Alternativ werden Eltern zu Hilfslehrern der Nation.
Liebe Kolleginnen und Kollegen – ja, auch ich als Schulleiter freue mich über die künftige Wahlmöglichkeit der Schülerinnen und Schüler. Keine weinenden Eltern mehr, deren Welt zusammenbricht, wenn sie erfahren, dass ihr Kind in die Hauptschule muss. Wobei ich nicht nur einmal hörte, dass ich versuchen wolle, meine Hauptschule mit guten Übergangszahlen zu retten.
Der Wegfall der Grundschulempfehlung bedeutet nicht zuletzt auch eine Chance für die Eltern, mehr Verantwortung zu übernehmen für die schulische Entwicklung ihrer Kinder. Der Begriff von der Schule als Lebensraum beginnt nämlich genau hier, an jener Stelle, an der die Eltern nicht nur ins Boot geholt werden, sondern auch das Ruder übernehmen.
Damit das gelingt, werden wir ein "durchgängiges, kontinuierliches und verbindliches Informations- und Beratungskonzept" ausarbeiten. Es soll auf der schon vorhandenen Beratungstätigkeit aufbauen, aber über die bloße Beurteilung nach Noten hinausgehen. Damit wird die gesamte Lern- und Leistungsentwicklung des Kindes stärker in den Blick genommen, etwa das Lern- und Arbeitsverhalten oder die Motivation.
Wir streben ein begleitendes Konzept für die Fortbildung der Lehrerinnen und Lehrer an. Sie sollen ein besseres Rüstzeug dafür erhalten, wie sie die Eltern am besten beraten können. Auch die Beratungslehrer erhalten künftig eine noch wichtigere Funktion und werden dem Namen eher gerecht.
Die Kooperation zwischen Grundschule und weiterführenden Schulen wird verbindlich festgelegt. Bisher gab es informelle Treffen, bei denen sich die Gymnasien oder die Realschulen über die mangelnde Qualität an den Grundschulen beschwerten, ohne sich mit dem Bildungsplan der Grundschule auseinandergesetzt zu haben. Die Kooperation soll die Lehrkräfte von Grundschule und weiterführender Schule näher zusammenführen, mit dem Auftrag, den Übergang gemeinsam mit den Eltern zu gestalten.
Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen,
die geplanten Änderungen setzen auf die Eigenverantwortung und eine stärkere Beteiligung der betroffenen Bürger an Entscheidungen. Diese Beteiligung wird die Gewähr dafür sein, dass die Änderungen langfristig Bestand haben werden.
Zum Antrag der FDP /DVP
Sehr geehrte Kollegen der FDP / DVP,
im Beschlussteil des Antrages 15 /158 beantragen Sie „auch nach der Abschaffung ihrer Verbindlichkeit an einer förmlichen Grundschulempfehlung festzuhalten“.
Heißt das: die FDP begrüßt die Abschaffung der Verbindlichkeit?
Oder heißt das: wir wollen weiterhin ein förmliches Verfahren – also doch verbindlich?
Als Liberale unterstelle ich Ihnen mal, dass Sie die Freiheit der Eltern gerne gegen die Bevormundung durch den Staat ersetzen wollen.
Zum Verfahren schlage ich Ihnen vor, Ihren Antrag in den Schulausschuss zu überweisen, denn dort war er noch nicht.
http://www.swp.de/ulm/nachrichten/suedwestumschau/Gruen-Rot-will-weniger-Stress;art4319,1047441