PLENUM 31. Sitzung, 16. Oktober 2002
TOP 9: Unterrichtsversorgung
SPD: Unterrichtsversorgung Drucksachen 13 / 371, 13 / 565
GRÜNE: Unterrichtsversorgung im Sonderschulbereich Drs. 13 / 1145
SPD: Erhebung zum Unterrichtsausfall Drs. 13 / 639
SPD: Unterrichtsausfall an baden-württ. Schulen, Drs. 13 / 1017
Herr Präsident,
meine sehr geehrten Damen und Herren,
sehr geehrte Frau Ministerin,
Die Situation an unseren Schulen und Ihre Aussagen dazu – die Kluft, die sich da auftut, wird immer peinlicher. Unterricht fällt inzwischen in einem Maße aus, dass alle bisherigen Rekordmarken übertroffen werden, Förder- und Ergänzungsstunden werden gnadenlos zusammengestrichen und viele Klassen platzen aus allen Nähten. Die PISA- Ergänzungsstudie hat gezeigt, dass die Personalsituation von den Schulleitungen nirgends so prekär eingeschätzt wird als in Baden-Württemberg. In 48,5 Prozent, also in fast jeder zweiten Schule ist das Lernen der 15jährigen nach Angaben der Schulleitungen durch Lehrermangel oder fachfremden Einsatz von Lehrkräften beeinträchtigt.
Hilfe suchend in der Not wenden sich immer mehr Schulleitungen, Lehrkräfte und Eltern sowie Schülerinnen und Schüler an uns. Sie wenden sich an uns, weil Sie zwar fast täglich neue Erfolgsmeldungen über Ihre Pressestelle vernehmen, Frau Schavan. Aber: Allein der Glaube, dass sich an unseren Schulen in Baden-Württemberg wirklich entscheidend etwas verbessert, der ist verloren gegangenen, Frau Ministerin!
Kein Schulleiter, keine Lehrerin, keine Mutter und erst recht nicht die Schüler glauben noch daran, dass sich unter Ihrer Amtszeit etwas ändert!
Als Sie im Bundestagswahlkampf groß auf Reisen waren, haben Sie überall in Deutschland, von Flensburg bis Friedrichshafen und von Plauen bis Pirmasens verkündet: Genug der Worte – wir wollen Taten von der Bundesregierung sehen. Jetzt nehmen wir Sie beim Wort: Genug der weiten Reisen – zurück an den Schreibtisch, Frau Schavan! Nachsitzen ist angesagt! Es gibt genug zu tun für Sie!
Unsere 3 Anträge und die 3 Antworten aus Ihrem Ministerium offenbaren die ganze Misere in der Schulpolitik, die Sie zu verantworten haben. 4 Punkte will ich herausgreifen:
Die Unterrichtsversorgung ist so schlecht wie nie zuvor!
Von Ihnen veranlasste Stichproben über Unterrichtsausfall an baden-württembergischen Schulen ergaben, dass der Unterrichtsausfall an den meisten Schularten so hoch ist wie nie zuvor!
Hier sind die Fakten, wie sie von Ihrem eigenen Ministerium erhoben wurden:
Unterrichtsausfall an Grundschulen: eine Steigerung von 40% innerhalb eines Jahres!
Unterrichtsausfall an Realschulen: ebenfalls 40% mehr Unterrichtsausfall innerhalb eines Jahres!
Unterrichtsausfall an Sonderschulen: eine Steigerung um 193%!
Das ist fast eine Verdopplung der ausgefallenen Stunden in nur einem Jahr. Gleichzeitig heißt es in der Bewertung Ihres Ministeriums. Ich zitiere wörtlich: „Die bisherigen Stichproben haben in etwa die gleich bleibenden Daten erbracht!“ Frau Schavan: Eine Verdopplung – das ist doch nicht „in etwa gleich bleibend“. Das wissen sogar diejenigen, die in Klasse 1 mit dem Rechnen beginnen.
Die Statistik zum Unterrichtsausfall soll abgeschafft werden, weil Ihnen die Ergebnisse nicht passen!
Wenn diese Zahlen über Unterrichtsausfall Ihrer Schulpolitik ein so erstklassiges Zeugnis ausstellen, wie Sie es darstellen, also ein Ruhmesblatt der Regierung sind, warum sollen dann in Zukunft keine Stichproben mehr zum Unterrichtsausfall gezogen werden? Der Grund ist doch klar: Diese Zahlen sind ein Armutszeugnis für Ihre Politik und deshalb sollen sie auch gar nicht mehr erhoben werden. Getreu dem Motto: Eine Statistik, die mir nicht gefällt, wird erst gar nicht mehr erstellt!
Ich möchte Sie nun nicht für schwindende Steuereinnahmen Ihres Kollegen Finanzministers in Haftung nehmen. Aber wie beurteilen Sie folgende Bescheinigung zur Vorlage beim Finanzamt, ausgestellt vom Bildungszentrum Reutlingen-Nord: „Sehr geehrte Frau Thumm, ich bescheinige Ihnen, dass in unserer Klasse 8C in der Zeit vom 1.2. bis zum 17.05.2002 insgesamt 30 Unterrichtsstunden ausgefallen sind, die aus dem Stundenvolumen des Lehrerkollegiums nicht vertreten werden konnten.“
Mit Rechentricks versuchen Sie den Eltern vorzugaukeln, dass Sie tausende von neuen Lehrerstellen geschaffen haben und in großem Umfang zusätzlicher Unterricht stattfindet!
Angesichts der gigantischen Zahlen über steigenden Unterrichtsausfall ist es wirklich unglaublich, was Sie zu Beginn dieses Schuljahres veranstaltet haben: Über alle Kanäle suggerieren sie, die Unterrichtsversorgung sei besser als je zuvor. So zum Beispiel in einem Schreiben der Schulämter und Oberschulämter zu Beginn dieses Schuljahres an alle Elternbeiräte und Schulleitungen. 1.790 neue Lehrerstellen seien eingerichtet worden und in diesem Umfang finde zusätzlicher Unterricht statt. Von wegen! Viele dieser so genannten neuen Lehrer sind gar nicht zusätzlich neu an die Schulen gekommen. Im Gegenteil: Viele waren bereits letztes Jahr im Einsatz – zum Beispiel als Krankheitsvertretung. Wer letztes Jahr schon an der Schule war und jetzt dieses Jahr wieder da ist, der ist jetzt vielleicht wieder da, aber ganz sicher nicht neu an der Schule, Frau Schavan.
Die Klassen werden immer größer!
Die Schülerzahlen steigen weiter! An den Grundschulen hat Baden-Württemberg jetzt schon die schlechteste Schüler-Lehrer-Relation aller Bundesländer. Im neuen Schuljahr sind die Klassen vielerorts zum Bersten voll. Vor Ort heißt es, dass es sich um einen Einzelfall handelt. Tatsache ist aber: Die Klassen an den weiterführenden Schulen werden im Land durchschnittlich um 10 Prozent größer. Auch an vielen Grundschulen verschärft sich die Situation, weil aufgrund einer völlig falschen Schul- und Personalpolitik nicht genügend Lehrkräfte vorhanden sind.
Sie sehen, von Ihren vollmundigen Ankündigungen bleiben nur die Worthülsen übrig. Wieder einmal!
Wenn Sie es nicht glauben wollen, hier ein Beispiel hier aus der Umgebung:
Da schreiben Schüler vom Albert-Schweitzer-Gymnasium hier aus Gundelfingen im Breisgau an die SPD-Fraktion. Ich zitiere wörtlich. „Aus vier kleinen Klassen mit durchschnittlich 24 Schülern, in denen unsere Lehrer die neuen Lehrmethoden gut anwenden konnten, werden auf Anweisung des Oberschulamts drei Riesenklassen mit jeweils 32 Schülern. Diese Zusammenlegung führt dazu, dass zum Teil in den Fachräumen der Schule nicht genügend Platz vorhanden ist. So haben im Chemiesaal nicht alle Schüler des naturwissenschaftlichen Profils Platz zum Sitzen.“
Das ist das Ergebnis Ihrer Schulpolitik – ganz praxisorientiert. Man stelle sich nur mal vor, der Herr Ministerpräsident würde die Anzahl der Regierungsmitglieder so vergrößern, dass Sie da drüben keinen Sitzplatz mehr hätten. Bin gespannt, ob Sie es schaffen würden, auch das noch als einen Erfolg ihrer Politik zu verkaufen.
Herzlichen Dank!
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