Reden zur zweiten Lesung des Inklusionsgesetzes

Frau Präsidentin,
meine sehr geehrten Kolleginnen und Kollegen,

zu Beginn meiner Rede möchte ich Ihnen heute gerne ein Gedicht vorlesen, das der Bildungsausschuss auf seiner Reise nach Südtirol im Juni hören durfte:

Auf der Schaukel sitzt ein Kind.
Es kann nicht gehen,
es kann nicht stehen.
Es ist lahm und blind.
Es sitzt zum ersten Mal auf der Schaukel.
Aber es hat doch gar nichts davon, sagen die Leute,
das arme Kind ist lahm und blind!
Warum soll es nicht trotzdem schaukeln, fragt die Schwester.
Und das Kind schaukelt und lacht
und ruft ganz aufgeregt:
Ich spüre den Wind! Ich spüre den Wind!

Liebe Kolleginnen und Kollegen, heute werden wir das Gesetz zur Inklusion an Schulen in Baden-Württemberg beschließen. Mit dem heutigen Tag erlangen alle Kinder mit sonderpädagogischem Förderbedarf in diesem Land das Recht auf inklusive Beschulung an einer Regelschule – mit anderen Worten: Mit dem heutigen Tag gehört die Sonderschulpflicht in diesem Land der Geschichte an.

Was bei uns viele Jahrzehnte gebraucht hat, und nur durch den Druck der UN-Behindertenrechtskonvention auf den Weg kam, ist in anderen Ländern längst Realität. Seit rund 40 Jahren bereits gibt es in Italien beispielsweise keine Sonderschulpflicht mehr. Dass und vor allem wie das funktioniert, davon konnte sich der Bildungsausschuss bei seiner Reise nach Südtirol im Juni überzeugen.

An dieser Stelle möchte ich die von der Opposition initiierte, beinahe möchte ich sagen: inszenierte öffentliche Anhörung ansprechen. Am Ende, als es an die Abstimmung zum Gesetz ging, da haben Sie nicht etwa gegen dieses Gesetz gestimmt, sondern Sie haben sich enthalten. Auch dies machte mir – zumindest bis gestern Abend – Hoffnung für die Zukunft: Es hatte den Anschein, wir wären uns darin einig, dass es nicht ohne Inklusion gehen kann.

Und – auch das kann nicht oft genug betont werden –: Inklusion ist eine Aufgabe für alle Schularten. Auch wenn Vertreter des Beamtenbundes immer wieder die Möglichkeit einer zieldifferenten Beschulung am Gymnasium in Frage stellen: Erst jüngst brachte eine Studie der Bertelsmannstiftung zutage, dass die Zufriedenheit jener Eltern, deren Kinder eine inklusive Schule besuchen höher ist als jene, deren Kinder eine Regelschule besuchen. Das betrifft sowohl Leistungsaspekte als auch Aspekte der Persönlichkeitsentwicklung der Kinder.

Die Studie zeigt jedoch auch, dass Zweifel und Vorurteile gegenüber Inklusion dann groß sind, wenn man Inklusion nicht oder nur vom Hörensagen kennt. Das heißt, wer Inklusion nicht erlebt hat, der ist skeptisch und hegt Zweifel daran, dass dieses Modell gelingen kann. Daher rate ich den Vertretern des Philologenverbandes dringend, sich dieser Aufgabe zu stellen, sich nicht weiter davor zu verschließen. Wer einmal erlebt hat, wie befruchtend Inklusion sein kann – für Lernende wie für Lehrende – für den führt kein Weg mehr zurück.

Nach dem heutigen Tage werden wir einen großen Schritt nach vorne gegangen sein: Inklusion wird nicht mehr grundsätzlich in Frage gestellt, es geht lediglich darum, wie sie am besten organisiert werden kann. Und wenn der Fokus künftig allein auf dieser Frage liegt, dann stehen wir am Anfang einer neuen Entwicklung, einer neuen Haltung gegenüber Menschen mit Behinderung.

Die Rückläufe aus der Anhörungsphase bestätigten uns in dieser Einschätzung. Alle gehörten Verbände begrüßen diesen ersten rechtlich verbindlichen Schritt in ein inklusives Schulsystem. Und wo noch Nachbesserung in der Ausgestaltung notwendig ist, werden wir dem nachkommen. So zeigte sich in einigen Gesprächen, dass die Regelungen, die hinsichtlich der Privatschulen getroffen werden müssen, noch nicht zufriedenstellend ausgestaltet sind. Wir sind bereits dabei, uns diesen Bereich nochmals genauer anzusehen und entsprechende Ergänzungen vorzunehmen. Unserem Entschließungsantrag dürfen Sie nachher gerne zustimmen!

Noch ein Wort zu der von der Opposition präferierten Form der Außenklasse: Sicher ist die Außenklasse ein Weg der Integration, die Inklusion anbahnen, Begegnung ermöglichen, Hürden abbauen kann. Wir werden diese Form auch weiterhin ermöglichen. Aber sie ist keine Inklusion! Wenn behinderte Kinder ein eigenes Klassenzimmer in der allgemeinen Schule haben, werden sie Teil der Schule. Aber erst wenn sie selbstverständlich Teil einer Klassengemeinschaft sind, können wir von Inklusion reden! Richard von Weizsäcker sagte einmal: „Was im Vorhinein nicht ausgegrenzt wird, muss hinterher auch nicht eingegliedert werden.“

Abschließend danke ich auch heute noch einmal ausdrücklich unserem Kultusminister Andreas Stoch. Dafür, mit welch innerer Überzeugung er sich hinter die Ausgestaltung dieses Gesetzes gemacht hat. Dass er sich die Zeit genommen hat, die er brauchte, um einen Gesetzestext vorzulegen, der beispielhaft ist – und sich nicht von den Rufen der Opposition drängen ließ.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, was wir wollen, ist ein Gesetz, das hilft, dieses Land noch ein wenig lebenswerter zu machen, als es ohnehin schon ist. Wir wünschen uns, dass es dabei hilft, Schranken in den Köpfen einzureißen, das Denken und die Herzen weit zu machen. Ich erinnere mich an die Zeit, als ich Kind war. Damals sah man kaum Menschen mit Behinderung im Alltag, sie waren mehr oder weniger weggesperrt und damit unsichtbar. Dass dies nicht mehr so ist, dafür bin ich dankbar. Nun machen wir uns daran, diesen Menschen weiterhin den Weg zu bahnen in die Mitte unserer Gesellschaft, in unsere Schulen – damit jedes Kind, jede Schülerin und jeder Schüler schaukeln und lachen und den Wind spüren kann!

Vielen Dank!

Und auch in der zweiten Runde ergriff Klaus Käppeler das Wort:

Meine Damen und Herren von der Opposition. Die SPD-Fraktion wird heute sämtliche Ihrer 25 Anträge ablehnen. Denn wir empfinden diese als nicht ernstgemeintes Angebot. Wer am Vorabend der Plenarsitzung 25 Anträge einreicht, die fundamentale Änderungen und finanzielle Auswirkungen auf den Landeshaushalt hätten, aber keinen einzigen Deckungsvorschlag beifügt sowie keine fundierte rechtliche Bewertung zulässt, dem ist Effekthascherei wichtiger als seriöse Politik. Das heutige Thema hätte das Gegenteil verdient.

Wir halten die schiere Masse von 25 Anträgen, die sich in Teilen doppeln, manchmal auch widersprechen, für reinen Aktionismus und sinnbildlich für den Zustand der Opposition. Es ist der klägliche Versuch, sich mit populistischen und wohlfeilen Forderungen zu schmücken, um von der eigenen Konzeptlosigkeit abzulenken.

Aber so einfach werde ich es Ihnen nicht machen. Vielmehr möchte ich in der zweiten Runde die Gelegenheit nutzen, den einen oder anderen Antrag im Lichte der Vergangenheit zu beleuchten.

So möchte ich beispielhaft das heutige Oppositionsgehabe mit der Zeit Ihrer eigenen Regierungsverantwortung vergleichen. Grundlage meiner Vergleiche bieten jeweils die aktuellen Anträge und die Schulversuchsordnung aus dem Jahre 2010, die der damalige Ministerrat als Basis einer inklusiven Schulgesetzgebung vorgegeben hatte.

Heute fordert die CDU gleichwertige Lernbedingungen mit hoher Qualität, 2010 hieß es:

Es „kann im besonders begründeten Ausnahmefall im Rahmen der insgesamt zur Verfügung stehenden Lehrerwochenstunden die Bildung einer zusätzlichen Klasse genehmigt werden“.

2010 war von gleichwertigen Rahmenbedingungen keine Rede, nicht einmal der Klassenteiler wurde automatisch ausgelöst!

2.   Beispiel: Heute fordern CDU und FDP gleichberechtigte Teilhabe der Privatschulen und eine angemessene finanzielle Ausstattung.

2010 hieß dies recht unverbindlich: „Privatschulen können grundsätzlich am Schulversuch teilnehmen“- keine Rede von aktiver Einbindung und zum Thema Finanzierung auf S. 11 hieß es wörtlich- bitte genau zu hören:

Es „muss sichergestellt sein, dass die private allgemeine Schule keinen Zuschuss erhält. Der Träger der privaten allgemeinen Schule hat eine entsprechende Verzichtserklärung gegenüber dem Staatlichen Schulamt abzugeben.

Keinen Zuschuss, Verzichtserklärung – das bedeutete bei Ihnen vor 5 Jahren auskömmliche Ausstattung der Privatschulen!

3.   Beispiel: Heute fordert die CDU das Tandemprinzip an der allgemeinen Schule und eine stabile Unterrichtsversorgung an Sonderpädagogischen Bildungs- und Beratungszentren.

Im Schulversuch – und das betraf immerhin den Bereich von 5 Staatlichen Schulämtern – haben Sie Sonderpädagogen aus den SBBZ abgezogen, keine zusätzlichen Lehrer eingestellt – auch nicht bei Ihrer berühmten Bildungsoffensive!

Diese wenigen Beispiele veranschaulichen die Art der Opposition, Stimmung gegen ein Gesetz zu machen, das schulrechtliche und finanzielle Zugeständnisse weit über die bisherigen Schulversuchsbestimmungen hinaus macht und die Kommunen eng einbindet.

Immer dann, wenn es um ernsthafte politische Verantwortung geht, ducken sich CDU und FDP weg. Das war damals bei der Ausgestaltung der Schulversuchsbedingungen so und das zeigt sich heute mit der Flut von Anträgen, die beliebig noch mehr fordern. So fordern Sie einen Ombudsmann, Elternlotsen in Stadt und Landkreisen und eine wissenschaftliche Evaluation. Das hätten Sie alles selbst machen können. Warum haben Sie es denn nicht?

Ihre Anträge atmen den Geist einer Pseudo-Inklusion. Diesen können und werden wir nicht zustimmen.

Ich möchte Sie daher abschließend nochmals zur Vernunft aufrufen und Ihnen anbieten, diesen historischen Moment mit uns zu teilen und die Abschaffung der Sonderschulpflicht als breiten gesellschaftlichen Konsens in die Schulgeschichte Baden-Württemberg einfließen zu lassen.

Vielen Dank!

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