Klaus Käppelers Redebeitrag zur Änderung des Schulgesetzes anlässlich der Plenardebatte vom 10. November 2011

PLENUM

18. Sitzung, 10.11.2011

TOP 9 – Erste Beratung des Gesetzentwurfs der Landesregierung
Gesetz zur Änderung des Schulgesetzes für Baden-Württemberg
Drucksache 15/823

Frau Präsidentin,  

meine sehr geehrten Kolleginnen und Kollegen!  

„Das Wegfallen der verpflichtenden Grundschulempfehlung lässt uns gelassener an das erste Schulhalbjahr herangehen und nimmt uns und letztendlich unserem Sohn in der vierten Klasse ganz viel vom Druck. Vielen Dank dafür!“ Dies ist eines von vielen Beispielen an Reaktionen, die ich seit der Ankündigung dieser Gesetzesänderung erhalte.  

Sehr geehrte Damen und Herren, das vorliegende Gesetz zur Änderung des Schulgesetzes für Baden-Württemberg ist das erste, mit dem die grün-rote Landesregierung entscheidende Weichenstellungen in der Bildungspolitik vornimmt. Ich danke unserer Kultusministerin Gabriele Warminski-Leitheußer und ihrem Haus für die zügige Umsetzung des Koalitionsbeschlusses, dass die Verpflichtung der Grundschulempfehlung entfällt und damit die Elternrechte entscheidend gestärkt werden. Diesen Dank drücke ich vor allem als Schulleiter aus, der in das Übergangsverfahren von der Grundschule in die weiterführenden Schulen involviert ist. Und ich erlaube mir auch, Ihnen im Namen vieler betroffener Eltern, Lehrerinnen und Lehrer sowie der Grundschulkinder Dank zu sagen.

Und will ich Ihnen auch nicht vorenthalten, wie die oben zitierte Email geendet hat. Die Mutter sagte zu ihrem Mann "Siesch, mir hend richtig gwählt!" 

In der Aktuellen Debatte am 20. Juli diesen Jahres sind Sie, sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen von CDU und FDP sehr kritisch mit der geplanten Abschaffung der Verbindlichkeit der Grundschulempfehlung umgegangen.

Nach Anhörung der Verbände müssten Sie allerdings Ihre Fahnen einholen und zugestehen, dass die neue Landesregierung auf dem richtigen Wege ist, weil sie den erklärten Elternwillen berücksichtigt.

Denn grundsätzlich hat außer Ihnen niemand etwas gegen die Abschaffung der Verpflichtung der Grundschulempfehlung: Die Neuregelung kommt einem langjährigen Wunsch des Landeselternbeirats entgegen und wird ausdrücklich begrüßt. Die kommunalen Landesverbände Landkreistag, Städtetag und Gemeindetag widersprechen der Neuregelung nicht. Das evangelische Schulwerk Baden-Württemberg hat keine Einwände und Änderungsvorschläge. GEW und DGB schließen sich der Umsetzung vollumfänglich an, der Beamtenbund widerspricht der Neuregelung nicht und die Vereinigung von Schulleiterinnen und Schulleitern steht dem neuen Übergangsverfahren grundsätzlich positiv gegenüber.

Bei so viel Einigkeit muss ich mich schon fragen: Warum haben Sie dies nicht längst selbst umgesetzt?

Die Antwort liegt auf der Hand: Es ist Ihnen einzig und allein um die Erhaltung der Dreigliedrigkeit des Schulsystems gegangen. Mit allen Mitteln wollten Sie die Hauptschule retten, damit Sie weiterhin eine Schulform haben, in die Sie Kinder, die aus Ihrer Sicht nicht in die Realschule oder ins Gymnasium passten, aussondern konnten. Kinder, die auffällig oder unangepasst,– aber nicht weniger intelligent als ihre Klassenkameraden sind und von ihrer Begabung her durchaus die Mittlere Reife oder das Abitur erreichen können.

Sie werfen uns vor, das Bildungssystem in Baden-Württemberg verändern zu wollen. Ich darf Ihnen sagen, dass Sie hiermit gar nicht so falsch liegen. Es geht uns aber um mehr: Wir wollen nicht nur die Strukturen, sondern vor allem auch die Atmosphäre, das Lernumfeld verbessern. Nirgends lernt es sich besser als in einer Atmosphäre des Angenommenseins, nirgends schlechter als unter Druck. 

Wenn Sie von einer überstürzten Einführung reden, dann halte ich Ihnen Folgendes entgegen: Schon immer haben Lehrerinnen und Lehrer in den vierten Klassen Eltern intensiv beraten, das tun sie auch in diesem und in den kommenden Jahren. Der Unterschied: Bisher empfanden Eltern die Empfehlung als feststehendes Urteil, als Drohung. Zukünftig werden sie sehr genau auf die Empfehlung der Lehrerinnen und Lehrer achten, weil die Verantwortung bei ihnen selbst liegt.

Schon bisher waren die engagierten Grundschullehrerinnen und Grundschullehrer in intensivem Dialog mit den Eltern. Künftig wird die Beratung von der ersten Klasse weg verpflichtend und wird sich wie ein roter Faden durch die Grundschulzeit ziehen, so dass es nicht mehr passieren kann, dass Eltern nach Erhalt der Grundschulempfehlung aus allen Wolken fallen. 

Externe Beratungslehrer wurden bisher nur angerufen, wenn die Eltern mit der Gemeinsamen Bildungsempfehlung nicht einverstanden waren, in der Hoffnung, dass das Urteil der Schule korrigiert wird. Zukünftig werden diese speziell ausgebildeten Lehrerinnen und Lehrer eine wichtigere Rolle bei der Schullaufbahnberatung spielen, wenn Eltern sich in ihrer Entscheidung unsicher sind. Sie können – wenn die Eltern dies wünschen – einen Begabungstest machen oder sich auch nur in einem Gespräch beraten lassen. 

Sehr geehrter Herr Wacker, in der Aktuellen Debatte am 20. Juli haben Sie das Thema der Sozialen Selektion zur Sprache gebracht und behauptet, diese würde durch die wegfallende Verpflichtung verschärft.

Die Realität sieht derzeit allerdings so aus, dass Kinder aus den sogenannten „besseren“ Familien von ihren Eltern meist intensiv auf ihrer schulischen Laufbahn begleitet und nicht selten zur gewünschten Grundschulempfehlung getrimmt werden. Kinder von Eltern aus bildungsfernen Schichten hingegen kommen nicht in diesen vermeintlichen Genuss, da oft schon der regelmäßige Kontakt zwischen Eltern und Lehrern fehlt. Künftig jedoch werden auch diese Eltern verpflichtend beraten werden und zwar regelmäßig und bereits vom ersten Schuljahr an. Dass dies ein ganz grundsätzlicher und wichtiger Beitrag zu mehr Chancengleichheit ist, dürfte auch Ihnen einleuchten. 

Zur Angst, dass die Eltern die „falsche“ Schule wählen, möchte ich zweierlei anmerken:

1. Die Erfahrungen mit der Einführung von G8 hat doch gezeigt: Eltern schrecken eher davor zurück, ihre Kinder zu überfordern. Wie lässt es sich denn sonst anders erklären, dass landesweit 15 % der Schüler mit gymnasialer Empfehlung die Realschule besuchen, in meiner Heimatgemeinde oder auch an anderen Realschulen sind es sogar über 40 %.

2. Ich will nicht abstreiten, dass manche Eltern, vielleicht doch wider besseren Wissens ihr Kind an der Realschule anstatt der Hauptschule anmelden. Aber dieses Ziel haben sie jetzt auch schon erreicht, mit teurer Nachhilfe, mit gnadenlosem Pauken für die Klassenarbeiten, mit Druck oder dann nach der fünften Hauptschulklasse in der Orientierungsstufe. 

Ja, Sie haben Recht mit ihrer Befürchtung, dass dies das Aus für kleine Hauptschulstandorte sein kann. Aber erfinden Sie keine neue Dolchstoßlegende, nach dem Motto: „Wer hat euch verraten – Sozialdemokraten.“

Der kontinuierliche Rückgang an Hauptschülern ist dem Wunsch der Eltern nach einem höheren Bildungsabschluss geschuldet. Zurückgehende Schülerzahlen wirken sich deswegen insbesondere negativ auf kleine Hauptschulstandorte aus. Und schon vor Ihrem Schließungsprogramm „Neue Werkrealschule“ mussten kleine Hauptschulstandorte ihren Betrieb einstellen. In meiner näheren Umgebung zum Beispiel Hayingen, Mehrstetten, Auingen und Gomadingen zum Ende diesen Schuljahres. Und das nicht nur wegen der von Ihnen geforderten Zweizügigkeit, sondern weil sie nicht einmal mehr einzügig waren. Sollten solche Schulen Gemeinschaftsschulen werden und die Eltern diese Schulform wählen, könnte die eine oder andere Gemeinde eine weiterführende Schule im Ort behalten. 

Die Chancen auf Änderung der Gemeinsamen Bildungsempfehlung durch die Klassenkonferenz waren nach Tests und Beratungsverfahren durch einen Beratungslehrer sehr klein, für das Bestehen einer Aufnahmeprüfung gar verschwindend gering. An meiner Schule hat die vergangenen vier Jahre kein einziges Kind die Aufnahmeprüfung bestanden und eine Korrektur der Empfehlung gab es nur in zwei Fällen.

Leidtragende sind immer die Kinder, die von ihren Eltern in das Beratungsverfahren gedrängt werden und nach der zweiten Gemeinsamen Bildungsempfehlung erneut als Versager bloßgestellt sind.  Wenn sie dann noch Ende des Schuljahres in die Aufnahmeprüfung geschickt werden, diese auch nicht bestehen,  erlischt der letzte Funken Hoffnung. Einmal mehr können die armen Kinder die Erwartungen ihrer Eltern nicht erfüllen – eine Katastrophe für viele Bildungsbiographien. 

Sie argumentieren, dass mit der Übertragung der Entscheidung für eine weiterführende Schule auf die Eltern die Gefahr bestehe, dass die Kinder in einer falschen Schule landen, dort Misserfolge haben, sitzen bleiben, die Schmach der Zurückstufung in die Realschule oder in die Hauptschule erleiden müssen. Solange es sich Schulen und Lehrerinnen und Lehrer leicht machen können, indem sie dem Kind bedeuten, dass es an der „falschen“ Schule sei, solange ist etwas falsch in unserem System.

Erst wenn es in allen Schulen gelingt, alle Kinder so anzunehmen, wie sie sind und sie dann entsprechend ihrer Fähigkeiten individuell zu fördern, erst dann werden wir allen Kindern gerecht.

Sind Sie sich bewusst, dass Sie immer noch der althergebrachten Überzeugung hinterherlaufen:

"Alle gleichaltrigen Schüler haben beim gleichen Lehrer zum gleichen Zeitpunkt im gleichen Zimmer mit dem gleichen Lehrmittel das gleiche Ziel gleich gut zu erreichen." (Nach den 7G von Fratton). Solange Sie dieses Ziel weiter verfolgen, werden Sie Kinder in falschen Schulen finden.

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